Beam me up, Scotty!

“Arbeit läuft gut, aber mehr dazu später.”

Aus dieser Ankündigung im zweiten Blogbeitrag im September vor zwei Jahren wurde lange nichts. Als ob ich mir nicht vorgenommen hätte, eine erste Reflexion nach “100 Tagen im Amt” zu schreiben! Aber erstens kommt es anders, zweitens überstürzten sich die Ereignisse im ersten halben Jahr und drittens fehlten mir zunehmend Musse und Distanz, um etwas Lesbares zu produzieren.

Erst als ich vor etwa einem Jahr ein interkulturelles Coaching mit einer Singapurerin begonnen hatte, wurde mir vieles noch klarer, und ich bekam wieder Lust, etwas darüber zu schreiben.

Mad House
Der Start im August 2015 war heftig. Am Samstagmorgen angekommen, am Montag früh mit Jetlag ins Büro. Ich hatte zwar versucht, mich mental auf die andere Umgebung, die vielen Veränderungen und die neuen Leute einzustellen, aber es war trotzdem für einige Monate massiv. Neuling zu sein war extrem anstengend! Es gab so vieles zu lernen punkto Menschen, Umgangsformen, Arbeitsprozessen, Namen, Funktionen, Produkten, etc. etc. Da hilft nur eines: fragen, fragen, fragen. Dazu hatte ich erst einige Zeit später richtig realisiert, dass nicht nur die neuen Umstände, sondern die Aufgabe an sich richtig zu beissen gab:

  • meine Vorgängerin war schon einige Monate zuvor gegangen (worden), meine Mitarbeiterin im Mutterschaftsurlaub würde erst im November wieder zurück sein. Ich übernahm die 600+ Leute deshalb allein.
  • ich hätte durch eine Kollegin während der ersten Wochen gut eingeführt und betreut werden sollen. Fand nicht statt.
  • meine HR Chefin war auch schon nicht mehr da, ihre Nachfolgerin kam erst im Oktober aus dem Ausland.
  • im September begannen die Vorbereitungen für die erste grössere Restrukturierung der Firma überhaupt. In meinen Bereichen wurden schliesslich mehr als 40 Kündigungen ausgesprochen. Auch mein Chef war darunter…

Da waren die alltäglich neuen Erlebnisse – wie die witzige Papierkorb-Geschichte – eine willkommene Abwechslung:
Als mir die Assistentin meines Chefs half, mein Cubicle (=Arbeitsplatz, an drei Seiten umrahmt von 1.8 m hohen Wänden) einzurichten, fragte ich nach einem Papierkorb. Antwort: es gibt hier keine Papierkörbe. ?!?! Was folgte war ein fast endloses Geschwurbel über Umweltzertifizierungen, Abfalltrennung und ähnliches. Als ich schliesslich insistierte, weil ich den Grund immer noch nicht verstanden hatte, folgte ein simples “weil es so ist”.
Diese Antwort bekomme ich ziemlich häufig. Ich bin mir bewusst, dass jeder Fremde in jeder Kultur genau diese Antwort bekommt. Die Frage ist doch, wie geht die Kultur damit um? In Singapur sind solche Fragen nicht wirklich willkommen, sondern werden oft als “in Frage stellen der Person” interpretiert. Kein “oh-wenn-ich-jetzt-darüber-nachdenke-könnten-wir-das-vielleicht-ja-tatsächlich-anders-machen”. Oft wird die Sach- mit der Beziehungsebene vermischt.

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Eines meiner vielen Management Teams (fast alle Singapurer)

Team! What team?
In den ersten Wochen hatten mich fast alle Geschäftsleiter anlässlich von Meetings zum gemeinsamen Mittagessen eingeladen. Das war’s dann aber mehrheitlich auch schon.
Um nicht allein Mittag essen zu müssen (was auch später immer wieder mal unfreiwillig vorgekommen ist), musste ich mich im Laufe des Vormittags aktiv darum kümmern. Auch wenn ein Gespräch dann durchaus anregend und interessant war, wurde die Einladung später nur in wenigen Fällen erwidert, auch nicht im HR Team.
Das hat zum einen damit tun, dass oft die gleichen kompakten Gruppen in die gleichen Restaurants oder Hawker gehen. Das entspricht meiner Wahrnehmung, dass die Singapurer wenig neugierig und an Fremden interessiert, oder anders formuliert, ein bisschen langweilig sind.
Erst im Laufe der Zeit hatte ich begriffen, dass das Mittagessen oft auch ein Ritual ist, dem ungeschriebene Gesetze zugrunde liegen und die – nebst der Nahrungsaufnahme – dem Zweck dient, Gruppenzugehörigkeiten zu definieren und zementieren. So bilden sich oft Gruppen, die der gleichen Hierarchiestufe angehören. Gemischt wird wenig, es sei denn der Chef lädt ein, um mit Absicht bestimmte Leute zusammenzubringen. Genützt hat mir diese Einsicht wenig, weil sich die Gegebenheiten nicht so einfach ändern lassen. Oft hilft nur buddhistisch-entspannt zu akzeptieren…
Umso grössere Hoffnungen hatte ich in unser HR Team. Fehlanzeige. Es nimmt punkto Integration von neuen Kolleginnen und Kollegen nicht gerade einen Spitzenplatz ein. Inzwischen haben mir dieselben Erfahrungen von noch neueren Kollegen (auch Einheimische!) bestätigt, dass es hier noch viel Entwicklungspotenzial gibt. Fazit: es blieb lange anstrengend. Zum Glück habe ich eine sehr nette HR Chefin und einen neuen Kollegen mit dem ich Freud und Leid teilen konnte. Inzwischen ist er zu einem guten Freund geworden (die beiden hintere Reihe links).

25.11.2016(17)
Das HR Team beim Teambuilding

Die erste Krise
Nach rund vier Monaten am neuen Arbeitsplatz war die Zeit reif für die erste saftige Krise. Wie gern wäre ich einfach so mal verschwunden, vielleicht zur Kur auf die Enterprise?
Ich fühlte mich immer nudelfertig: die ständigen Lernanforderungen, die grosse Restrukturierung und die Anpassungsleistung kosteten Kraft. ABB ist definitiv nicht gleich ABB! Kam dazu, dass viele Prozesse nicht dokumentiert waren und ich mir vieles erarbeiten und aufschreiben musste.

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In mancherlei Hinsicht war ich frustriert, weil ich mich oft über dieselben Verhaltensmuster von KollegInnen aufregte und (noch) nicht wusste, wie damit umgehen. Typisches Beispiel: ein austretender Mitarbeiter möchte wissen, ob er nach seinem Austritt eine Firmenversicherung als Privatperson aufrecht erhalten kann. Auf meine Anfrage an eine Kollegin im HR Center erhalte ich die Antwort: Ja, er kann, aber nicht zum Firmenpreis. Aha. Die Kollegin hat zwar absolut korrekt geantwortet, nur leider hat sie für das eigentliche Anliegen keine Verantwortung übernommen. Sonst hätte sie gleich noch den neuen Preis eingeholt, allfällige weitere Bedingungen abgeklärt und zurück gemeldet.
Schliesslich hatte ich zwei heftige Auseinandersetzungen mit einem sehr dominanten (aber eigentlich sehr unsicheren) Vorgesetzten aus einer stolzen, ausgesprochen Hierarchie-orientierten Kultur. Obwohl er immer vollmundig von Feedback, Partnerschaft und Gedöns redete, wollte er mich ganz offensichtlich in seinem Sinn disziplinieren und in sein kleines HR-Böxli sperren. Das liess ich aber nicht zu. Für mich war damit klar, dass ich künftig nicht mehr für ihn arbeiten würde, weil das 100% eine “lose-lose” Situation geworden wäre.

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Abschluss eines 3-tägigen Trainings, das ich in Bangalore durchführte (8 Nationen)

Von der Rolle
Das war zum Glück die einzige solche Begegnung. Allerdings sind auch hier die Muster oft dieselben. Die Führungs-Qualitäten meiner Manager hier sind – natürlich von Ausnahmen abgesehen – nicht ausgeprägt hoch. Ebenso Personalentwicklung als Selbstverständnis und Aufgabe der Chefs aller Stufen, obwohl ABB seit Jahren entsprechend gute Prozesse und Instrumente hat. Dementsprechend habe ich als HR Feedback gegeben, viele grundsätzliche Gespräche geführt und versucht, auf einfache Weise das Wissen und die Kompetenzen aufzubauen.
Das kommt bei vielen Managern aber nur langsam an, weil sie ganz andere Rollenerwartungen an HR haben (und Feedback geben nicht in deren DNA zu finden ist). Traditionellerweise ist HR in Südostasien in erster Linie Salärsachbearbeitung, Administration und vielleicht noch Rekrutierung. Kommt dazu, dass in unserer Organisation die HR Rollen oft von Frauen besetzt waren (die in der konfuzianischen Tradition dem Mann untergeordnet sind).
Jetzt kommt plötzlich ein nicht mehr ganz junger Mann, ein westlicher Ausländer aus dem Land der Konzernzentrale, der sich nicht mit der traditionellen, administrativen Gango-Rolle zufrieden gibt, sondern den Managern auf Augenhöhe begegnet und ihnen sogar in ihrer ureigensten Domäne, der Führung, “dreinreden” will! Aber jetzt sowas, geht’s noch?!?

IMG_7279 (1)Improvisiertes Interview eines Kandidaten für einen Job in Jakarta (mit dem privaten ipad)

Individuell? Kulturell?
Eine weitere Schwierigkeit bestand darin, unterscheiden zu können, welches Verhalten individuell ist und welches kulturell bedingt (z.B. wie – oder besser ob – Leute hier mit Verbesserungsvorschlägen umgehen). Zunächst gehe ich ja von einem individuellen Verhalten aus, bis ich merke, dass mehrere Leute die gleichen Muster zeigen. Ich hatte zu Beginn leider nur vereinzelt Gelegenheit, in der Firma mit Leuten zu sprechen, die für mich “kulturell übersetzt” haben. Erkannte ich ein Muster, versuchte ich weniger intuitiv damit umzugehen oder mich halt einfach daran zu gewöhnen… Doch selbst nach ersten solchen Erkenntnissen bleibt vieles noch sehr abstrakt. Eine weitere Differenzierung begann, als ich mich zusammen mit einer Chinesin, die auch neu im Land war, über die Eigenheiten der Singapurer wunderte…

Was es genau damit auf sich hat, werde ich in einem weiteren Blog erklären. Happy new year!

 


Mitarbeiterinfo

Ein besonderes Erlebnis waren die beiden grossen Mitarbeiter-Infos. Dabei gleicht sich der Ablauf jedes Jahr:

Das Motto
Jedes Mal gibt es einen thematischen Rahmen, sei es “BBQ à la Kampong” (malayisches Dorf) oder “You are the Stars”. Das Essen wird dem Thema etwas angepasst und vor allem gibt es die heiss begehrte Fotoecke, wo sich Gruppen verkleiden und ablichten lassen.

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Der offizielle Teil
Der Country Manager hat hier den grössten Stress. Er wickelt alle Ehrungen und Arbeitsjubiläen im Akkord ab. Das Ganze zieht sich deshalb so lang dahin, weil jede geehrte Person mit dem Country Manager fotografiert werden muss (und anschliessend noch die einzelnen Gruppen). Wengistens gibt’s ein paar Nüssli und ein Bier, um die Zeit zu überbrücken. Es herrscht nicht gerade ungeteilte Aufmerksamkeit, sondern ziemlich lautes Volksgemurmel.

Das Buffet
Sobald der offizielle Teil und die Reden fertig sind, stürzen sich die Leute buchstäblich aufs vielfältige Buffet. Jede ethnische Gruppe muss repräsentiert sein. Dann wird gefuttert, was das Zeug hält. Schliesslich ist es gratis.
Letztes Mal hat ein Animateur die träge Masse auf Touren gebracht und vier Teams haben den “Lip Sync” Wettbewerb ausgetragen.

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ERN20(4)

Das plötzliche Ende
Ehe man sich’s versieht, wird’s ungemütlich und 80% der Kollegen sind weg – egal ob Freitagabend oder unter der Woche. Warum das so ist? Offenbar macht man sich einfach nichts daraus noch ein bisschen weiterzumachen.


 

Beam me up, Scotty!

7 thoughts on “Beam me up, Scotty!

    1. Nein, nicht nur… ich hatte über die Monate viel Material gesammelt und auch geschrieben. Aber nun wollte ich mal etwas zusammenfassendes schreiben. ich hoffe, es ist einigermassen plastisch rübergekommen 🙂

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  1. Marianne Signer Schindler says:

    Ja, Fredy, wir sind von Deinen Zeilen tief beeindruckt. Matthias erinnerte sich an seine 8 Jahre Mexiko. Als ich ihn nach 4 Jahren fragte, was ihn denn in diesem Land noch halte meinte er: “Er finde die Herausforderung, in so einem desorganisierten Land zu funktionieren und etwas Neues aufbauen zu können spannend”. Ich für mich als Psychologin finde ich Deine Beobachtungen sowie Deine Art diese zu reflektieren und Deine Meinung dazu eindrücklich. Gratuliere, ein spannender Beitrag!

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  2. Gabrielle says:

    Danke, dass du doch noch geschrieben hast – und uns teilhaben lässt an deinen Erfahrungen und deiner Arbeit. Hochinteressant und definitiv sehr plastisch 😉 Ich habe mich beim Lesen gefragt, wie mein Grossvater den Arbeitsalltag in Singapur zwischen 1933-1942 wohl erlebt hat. Damals waren die Kulturen und deren Realitäten wahrscheinlich noch viel stärker getrennt (Europäer = Management, Asiaten = Arbeiter, Angestellte, Hauspersonal etc. – ?).

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